
Gioiosa Marea war eine der vielen Ortschaften, die die Nordküste Siziliens säumen. Viele neue und alte Appartements standen nach der Hauptsaison leer, geschlossene Fensterläden gaben keinen Einblick in das Innere der Häuser frei. Alles andere blieb draußen, und die Häuser schienen in den Winterschlaf versunken zu sein. Die wenigen noch offenen Cafés waren meistens diese uralten, seit ewigen Zeiten Treffpunkte Einheimischer und Zentren des lokalen öffentlichen Lebens. Ein paar alte Herren bezogen am Nebentisch Stellung und diskutierten lebhaft über die aktuelle Politik. Ich hätte viel dafür gegeben, um unauffällig in ihrer Nähe sitzen und ihnen genauer lauschen zu können. Doch trotzdem, eines konnte ich vernehmen: Berlusconi war wieder mal das Thema.

Worüber vermochten sich die Männer vor hundert und mehr Jahren hier aufzuregen? Als Italien im Begriff gewesen war, sich zu einem modernen Staat zu vereinen und der Vielstaaterei ein Ende zu setzen. Als Giuseppe Garibaldi mit seinen Tausend Rothemden vom Norden kommend 1860 Sizilien erreicht hatte, um Siciliani für den Kampf um die Befreiung von der Bourbonen-Herrschaft zu mobilisieren. Oder über die neue Epoche, neue unbekannte Herausforderungen? Denn wie sollte man die Insel nach 600 Jahren Fremdherrschaft und brutaler Ausbeutung regieren? Vielleicht hatten sie Angst vor dem Krieg gehabt und als der Große Krieg, der größte Krieg aller Zeiten vorüber gewesen war, saßen sie erstarrt angesichts frischer Erinnerungen an die Grausamkeit der menschlichen Rasse. Damals. Denn sie konnten nicht wissen, was da noch kommen würde. Der große Massenverführer Benito Mussolini hatte auch nur am Anfang ein neues, besseres Italien verheißen, als er zu seinem „Marsch auf Rom“ aufgebrochen war, der keiner, oder besser gesagt: nicht sein Marsch gewesen war. Er selbst war ja gemütlich mit einem Zug nach Rom gefahren, um frisch vor dem König, Vittorio Emmanuelle III. zu erscheinen. Oder über das Jahr 1943, als die Alliierten in Sizilien gelandet waren und für die Mafia die goldene Ära angebrochen war, die bis heute nicht so richtig enden will. Mit wem hatten sie damals ihre Gespräche geführt? In wen ihre ganze Hoffnung gesetzt? Und was ist aus ihren ganz privaten Hoffnungen geworden?
Ich schaute die alten Männer an und stellte mir all diese Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen würde. Nicht eine straniera, Ausländerin. Denn obwohl ich so temperamentvoll gestikulierte wie eine echte Italiana und mein Italienisch war mit der Zeit auch besser geworden, so würde ich trotzdem nicht als Italiana durchgehen – denn solche Kleider wie eine Sizilianerin würde ich nie im Leben tragen. Das wurde mir von einem Sizilianer bestätigt. Und dieser junge Mann wusste es besser.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.
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