Ich setze mich an den Küchentisch. Er steht direkt am Fenster, und ich brauche jetzt viel Licht. Ich brauche immer mehr Licht, um mich zu schminken. Dabei habe ich schon einen Vergrößerungsspiegel … Ich schaue in mein Gesicht und staune: Wie viel Haut kann denn ein Mensch im Gesicht haben? Nimmt die Fläche der Gesichtshaut im Laufe des Lebens zu? Wie viele Quadratmeter habe ich jetzt und wie viele sind es mehr als noch vor zehn Jahren?
Zwischen mir und dem Spiegel ist eine Brille. Soll ich sie abnehmen? Ich fürchte, ich muss. Ich werde wieder mehr oder weniger, wahrscheinlich eher weniger genau mit all diesen Mittelchen herumhantieren, um meine Augen sichtbar zu machen. Denn die Augenlider scheinen die überflüssigen Zentimeter einfach über die Augen zu legen. Ich könnte sie wegoperieren lassen wie meine Nachbarin. Aber sie sieht mich seitdem immer so staunend an. Ich möchte aber nicht staunen, wenn ich keinen Grund dazu habe.
Ich betrachte meine Augenbrauen. Hier sehe ich keine nennenswerten Verluste… Obwohl ich einen kleinen Zuwachs an manchen Stellen doch begrüßen würde. Soll ich die Stellen kaschieren? Eine Kosmetikerin würde sich vielleicht freuen, wenn sie mir da etwas hinzutätowieren könnte. In den letzten Jahren haben kalligraphische Linien Furore gemacht. Es hat mich schon gewundert, dass 90% der Frauen, denen ich auf den Straßen begegnet bin, die gleiche Form über den dick getuschten Wimpern trugen. Wie mit einer Schablone gemacht. Im Internet habe ich dann gelesen, dass man Augenbrauen liften kann. O, Gott! Was soll das denn bringen? Ich merke, ich bin weit, weit hinterm Mond. Da bleibe ich wohl auch. Und auch bei meiner wie auch immer unvollkommenen Form der Augenbrauen. Also, ein feiner Strich – und schon sieht man’s nicht.
Mein Blick wandert herunter, zum Kinn. Oh, na bitte. Die Augenbrauenhaare werden rarer, dafür wächst da etwas am Kinn. Schön, kräftig, schwarz. Es wird sofort ausgezupft und ich unterwerfe die volle Breite meines Kinns einer eingehenden Prüfung. Und finde noch ein Härchen. Es wird sofort eliminiert. Mein Entsetzen ist groß! Ich habe dort keine Haare erwartet. Das ist eine Stelle, die für den Haarwuchs bei Männern vorgesehen ist. Bei Männern! Ich bin kein Mann! Was ist bloß mit meinen Hormonen los? Kriege ich bald einen Schnurbart? Ich beginne zu schwitzen und das ist KEINE Hitzewallung!

Nun setze ich meine Lesebrille auf (seit neulich wieder ein Stück stärker) und schaue mir mein Gesicht Zentimeter für Zentimeter genauestens an. An einem braunen Fleck unter dem rechten Auge – da kann man nix (vielleicht noch nicht) machen – entdecke ich wieder ein Haar. Ein Härchen! Es ragt fröhlich empor und trotzt Wind und Wetter und überhaupt der ganzen Welt. Warum habe ich es noch nie bemerkt? – Oder etwa …! Mich erfasst ein fürchterlicher Gedanke. Ich springe auf, gehe zur Bibliothek und hole ein altes Buch heraus.
In güldenen Lettern steht drauf: Grimm’sche Märchen. Ich blättere kurz darin, und meine Befürchtung wird zur Gewissheit: Ich bin eine Hexe! Zur Vollendung des Bildes fehlt mir nur noch eine Katze – und ein Besen. Am besten einer mit einem Turboantrieb. Die Katze muss schwarz sein.
Man merkt – ich bin im Urlaub und habe viel Zeit.
(Übrigens: Die Imeline meiner Nachbarin eignet sich als Hexenkatze leider nicht besonders.)
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